Selbstverfasstes

      Selbstverfasstes

      Auch wenn ich durch Studium und Arbeit kaum dazu komme, lese und schreibe ich sehr gern, wenn mich mal die Muse küsst. Das Folgende habe ich zu Edward Hoppers Bild "Hotel Window" geschrieben.


      Warten


      Wieder sitzt sie dort. Starrt aus dem Fenster, den Blick auf irgendeinen Punkt gerichtet, den scheinbar nur sie sehen kann. Der Regen schlägt gegen die Fensterscheibe, malt mit seinen Schatten bizarre Muster auf ihr Gesicht. Musik dringt gedämpft aus der Hotellobby in den Raum, Gesprächsfetzen schwappen durch die offene Tür. Unverständliches Gemurmel. Ein Angestellter geht am Eingang ihres Zimmers vorbei und wirft einen flüchtigen Blick hinein, bevor er sich eilig einem jungen Mann zuwendet und ihn verkrampft nach seiner Reservierung fragt.

      Das alles nimmt sie nicht wahr. Draußen auf den Straßen gehen die Menschen vorüber. Der Wasserfluss auf der Scheibe lässt den Betrachter sie nur mehr erahnen. Verschiedenfarbige Flächen im funkelnden Licht der Straßenlaternen und Reklameschilder, die einander zustreben, sich für einen Augenblick zu einer diffusen Erscheinung vereinigen, nur um sich sofort wieder voneinander zu entfernen, ohne auch nur einen Moment zu verweilen. Kalt ist es geworden.

      Ein Wagen schält sich aus dem Dunkel, hält neben einem Mann in schwarzblauer Uniform. Die Pfütze im Rinnstein spritzt auf, als der Portier souveränen Schrittes auf den Wagen zugeht. Die Tür öffnet sich und entlässt ein Paar. Beide nicht mehr jung. Selbst durch den Regenschleier ist das silberfarbene Haar des Mannes zu erkennen. Seine Begleiterin lacht über etwas, das er ihr wohl gerade während der Fahrt erzählt hat, schrill auf. Er fällt mit ein.

      Dieses Geräusch bewirkt eine Veränderung. Kaum merklich straffen sich ihre Schultern. Ihre Hand fährt zum Hals und ihre Finger scheinen dort nach etwas zu suchen. Lautlos formt ihr Mund einen Namen. Ein mildes Lächeln legt sich auf ihr Gesicht. Doch wer genauer hinschaut, bemerkt, dass das Lächeln ihre Augen nicht erreicht. Vielmehr scheint sich ein Schatten über sie zu legen und sie werden dunkel vor Schmerz. Ganz so, als wollten sie die Lippen für den begangenen Frevel bestrafen. Auch die kleinen Fältchen werden nun besser sichtbar. Fältchen, die sich schon zu tief in ein altes Gesicht eingegraben haben, um je wieder zu verschwinden. Fältchen, die von zu vielen Nächten wie dieser erzählen. Sie muss einmal sehr hübsch gewesen sein, bevor es passierte und seine Spuren hinterließ.

      Die Finger lösen sich von ihrem Hals, gleiten hinab und bleiben am Ausschnitt hängen. Auch das rote Kleid hat wohl seine besten Tage längst hinter sich gelassen. Der Saum ist abgestoßen, Ärmel und linke Schulter mehrfach geflickt worden. Sein einst strahlendes Rot passt sich den trüben Farben der Zimmereinrichtung auf beängstigende Weise an, als ob es darum flehte, man möge es in den Kreis aufnehmen und seine eigentlich fröhliche Natur geflissentlich ignorieren.

      Lady in Red wird sie von den Angestellten und Stammgästen des Hotels genannt und kaum noch jemand kann sich an eine Zeit erinnern, in der sie nich Abend für Abend in ihrem Zimmer am Fenster saß und hinaus starrte mit einem Blick, der längst nicht mehr dieser Welt gehörte. In ihrer eigenen versunken.

      Die Rezeptionistin klopft an den Türrahmen. Die Tür selbst steht noch immer offen, wie immer. Langsam, vorsichtig, als könnte sie durch eine zu hastige Bewegung oder zu laut gesetzte Schritte etwas zerstören, geht sie auf sie zu und fasst ihr sanft an die Schulter. Endlich erwacht sie aus ihrer Lethargie und schaut in ein freundliches Gesicht. Auf die Mitteilung, dass es Zeit zum Dinner sei, nickt sie nur stumm und erhebt sich langsam. Kein Lächeln verzerrt mehr ihre Züge. Das blaue Leder des Sofas gibt knarrend und ächzend unter der Bewegung nach, hat es längst aufgegeben, sich wieder in seine frühere Form begeben zu wollen. Es bleibt zurück in der Erwartung, bald wieder von einer Dame in einem alten roten Kleid belegt zu werden.
      Der Verstand vieler Menschen ist ein Kreis mit Radius Null und das nennen sie ihren Standpunkt.